Die Sandmännchen
Erzählt von Sindbad
SIEfahrer
Es war einmal EINE gewaltige
Lok.
Diese Lok war sehr, sehr stark und daher auch sehr, sehr
schwer. Doch wenn die Schienen sehr, sehr glatt waren, musste
selbst diese gewaltige Lok beim Anfahren und beim Bremsen Sand
unter IHRE unzähligen Räder streuen, damit SIE sich ob
IHRER ungeheuren Kraft und IHRER kaum zu bändigenden Masse
nicht in die Schienen hineinfraß oder unkontrollierbar auf
diesen entlang glitt.
Zu diesem Zwecke hatte die Lok in der Nähe jeder IHRER
erhabenen Stirnseiten zwei kleine Kästen, in denen sich Sand
befand. In jedem dieser kleinen Kästen lebte ein
klitzekleines Männchen, das den Sand auf die Schienen
schaufelte, wenn die gewaltige Lok es hieß. Dies waren die
Sandmännchen.
Die Sandmännchen mussten hart arbeiten, denn es bedurfte
einer großen und schnell geschaufelten Menge des Sandes, um
die gewaltige Lok kraftvoll anfahren zu lassen und sicher zum
Stillstand zu bringen. Doch wollten die Sandmännchen niemals
etwas anderes machen, als Sand für die gewaltige Lok zu
schaufeln, denn sie liebten SIE heiß und innig und waren
erfüllt von Stolz, für SIE zu arbeiten.
Eines Tages trug es sich zu, dass die
gewaltige Lok zu Hause bleiben musste, denn SIE sollte gewaschen
und auf Hochglanz poliert werden, damit SIE anschließend
der Welt ein beeindruckendes Zeugnis IHRER
überwältigenden Schönheit geben konnte.
Daher ward den Sandmännchen aufgetragen, Dienst auf einer
anderen Lok zu verrichten. Diese Lok aber war sehr, sehr
hässlich und sehr, sehr böse. Sie war voller Ecken und
Kanten und besaß an ihren beiden Enden jeweils ein flaches,
furchteinflößendes Gesicht.
Aber noch schlimmer als ihre abgrundtiefe Hässlichkeit
war ihre heimtückische Absicht, die gewaltige Lok zu
vernichten. So versuchte sie, wo sie nur konnte, die gewaltige
Lok aus IHREM angestammten Dienst zu verdrängen. Und das,
obwohl die gewaltige Lok viele, viele Jahre lang treu,
zuverlässig und ohne zu murren IHREN Dienst verrichtet
hatte. Doch die böse Lok war viel jünger und
schmeichelte sich durch ihre Jugend bei den unwissenden
Führern der Eisenbahn ein, so dass diese ihr häufig den
Vorzug gaben.
Die Sandmännchen fürchteten sich vor der bösen
Lok, doch wagten sie nicht, gegen die Anweisung aufzubegehren. So
nahmen sie denn ihre Arbeit dort auf. Sie hatten noch nicht lange
Sand geschaufelt, als sie die böse Lok mit sich selbst
sprechen hörten:
"Gewalt'ge Lok, das willst du sein?
Der Friedhof ist dein neues Heim,
Was früher dir war, ist jetzt mein!"
Ein schrilles und bösartiges Lachen begleitete diese
Worte.
Als die Sandmännchen dies hörten, durchfuhr ein
gewaltiger Schreck ihre Glieder. Schlagartig ward ihnen klar,
dass die gewaltige Lok nicht gereinigt, sondern verschrottet
werden sollte, und dass sie SIE nie wiedersehen würden.
Voller Verzweiflung baten sie die böse Lok, von ihrem
Vorhaben abzulassen. Doch vergebens: Ihr Flehen ward von der
hartherzigen bösen Lok nur mit hämischem Lachen
beantwortet.
Des Nachts nach diesem Erlebnis lagen die Sandmännchen
traurig und niedergeschlagen in ihren Bettchen. Sie vergossen
bittere Tränen ob des bevorstehenden Endes der gewaltigen
Lok. Da erschien ihnen im Dunkeln eine leuchtende Erscheinung. Es
war eine gute Fee.
Die Sandmännchen erschraken sehr, doch die gute Fee
beruhigte sie und wisperte:
"Ihr Männchen, die ihr seid so klein,
habt Macht zu helfen IHR allein."
Die Sandmännchen konnten nicht glauben, dass sie, die
Winzlinge, etwas gegen die mächtige böse Lok ausrichten
konnten und fingen an, wild durcheinander zu reden. Doch die gute
Fee gebot dem Wirrwarr mit einer sanften Handbewegung Einhalt und
fuhr fort:
"Der Sand, und sei er noch so fein,
soll Schicksal für das Böse sein."
Die Sandmännchen wussten zunächst nicht, was die
gute Fee ihnen sagen wollte. Diese erklärte ihnen geduldig
ihr Anliegen und die Sandmännchen verstanden, was sie zu tun
hatten, um die gewaltige Lok zu retten.
Am nächsten Tag mussten die Sandmännchen wieder
für die böse Lok Sand schaufeln. Als diese wieder ihre
Häme über das bevorstehende Ende der gewaltigen Lok
kundtat, nahmen die Sandmännchen all ihren Mut zusammen und
sagten zu der bösen Lok:
"Sagt an, o Lok, o Hundertein,
Ihr fahrt zu langsam, kann das sein?"
Die böse Lok war sehr erbost über diese Bemerkung
und beschloss, den Sandmännchen eine Lehre zu erteilen, die
sie so schnell nicht wieder vergessen würden. So nahm sie
all ihre Kraft zusammen und beschleunigte wie noch nie zuvor.
Doch obwohl sie alsbald mit hoher Geschwindigkeit dahinraste,
vernahm sie keinen Laut der Angst von den Sandmännchen. So
fuhr die böse Lok schneller und schneller und verhöhnte
die gewaltige Lok und die Sandmännchen.
So geschah es, dass die böse Lok mit ungeheurer
Geschwindigkeit auf ein rot zeigendes Signal zufuhr. Im letzten
Moment bemerkte die böse Lok das herannahende Unheil und
befahl den Sandmännchen mit schriller Stimme
"Sand! Sand! Sand!",
während sie mit aller Kraft versuchte zum Anhalten zu
gelangen.
Doch nichts geschah. Die Sandmännchen folgten dem Befehl
der bösen Lok nicht. Ohne Sand auf den Schienen konnte die
böse Lok nicht mehr rechtzeitig bremsen und überfuhr
das rote Signal mit hoher Geschwindigkeit. Nur wenige Augenblicke
später entgleiste sie an einer Weiche und raste gegen eine
Wand, an der sie mit ohrenbetäubendem Lärm in
tausenddreißig Stücke zerbarst.
Die Sandmännchen aber hatten sich in den hinteren
Sandkästen versteckt und verließen alsbald das Wrack
der bösen Lok. Schon am nächsten Tag fuhren sie wieder
voller Freude im Dienste der gewaltigen Lok, auf die die
Führer der Eisenbahn nicht mehr verzichten konnten.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schaufeln sie noch
heute Sand für die gewaltige Lok.
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